Erinnerung zum Anfassen - Rückschau auf den Kreativ-Workshop mit der Künstlerin Friederike Altmann in Neubrandenburg
Diesen Herbst betraten zwölf Personen unterschiedlichen Alters neugierig einen Raum der Jugendkunstschule voller Gegenstände: Alte Schlüssel, vergilbtes Papier, Porzellanscherben, eine Zeitung aus dem Jahr 1930, ein Handrührgerät …
Die Jugendkunstschule "Junge Künste" Neubrandenburg und das Projekt zeitlupe der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern e. V.(RAA-MV) richteten den Kreativ-Workshop mit dem Titel „BEGREIFBARE BILDER“ aus. Schauplätze waren zum einen die Jugendkunstschule in Neubrandenburg und der Gedenkort des ehemaligen Neubrandenburger Konzentrationslagers „Waldbau“ im Nemerower Holz. Die Künstlerin Friederike Altmann leitete den Workshop und eröffnete den Teilnehmenden ihren künstlerischen Zugang zu den Werken, die sich mit Gedenkorten der NS-Verbrechen beschäftigen. Schritt für Schritt ergab sich so für jede Person ein eigener kreativer Prozess, der eindringlich von Friederike Altmann begleitet wurde. Der zweite Teil des Workshops findet nächstes Jahr statt (siehe Informationen am Textende).
Friederike Altmann lebt und arbeitet in Dresden. Ihre Bilder gestaltet sie vorwiegend mit Collagentechniken und Vernähungen. 2019 besuchte sie erstmalig den Gedenkort Waldbau und fertigte im Anschluss eine Materialmappe zu diesem Ort. Auch zur Gedenkstätte Ravensbrück sind Arbeiten von ihr entstanden.
Zu Beginn des Workshops wurden die Teilnehmenden eingeladen ihre Wahrnehmung zu Gegenständen neu kennenlernen. So wurde der Raum voller Objekte erst durch Sehen, Tasten und Riechen und schließlich neues Arrangieren und Verbinden der Gegenstände erschlossen. Die Künstlerin nähert sich auf diese Weise, ganz ursprünglich, wie es auch Kinder tun, den Themen ihrer Arbeit an. Das Haptische steht dabei im Fokus. Wie fühlt sich ein Gegenstand an, welche Emotionen löst das bei mir aus? Unterschiedliche Fragen und Geschichten zu den Gegenständen entstanden. So erkannte eine Teilnehmerin eine alte Holzfedertasche aus ihrer Schulzeit wieder. Jüngere Teilnehmer*innen erkannten diesen Gegenstand erst auf den zweiten Blick durch diese Erklärung. In solch einer Holzschachtel befanden sich sog. Griffel für die eigene Schreibtafel. So bot sich den Teilnehmenden nicht nur die Gelegenheit künstlerische Inspirationen zu erlangen, sondern auch Austausch zwischen den Generationen stellte eine Bereicherung dar.
Aber auch Irritationen durch unbekannte Übungen prägten den Abend: Nachdem eine Skizze von einem Arrangement gezeichnet wurde, sollten die Teilnehmenden das Bild zerreißen. Dies sei, nach Auffassung der Künstlerin, ein unmittelbar erlebbarer Abschied und dadurch eine Erinnerung. Weiterhin wurde Papier gefaltet und anschließend in einem Wassereimer getränkt. Wie veränderte sich das Material? Kann daraus etwas Neues entstehen?
Am zweiten Tag traf sich die Gruppe dann im Wald am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Waldbau. Dort befand sich eine unterirdische Zweigstelle des Konzentrationslagers Ravensbrück. Ab 1944 mussten mindestens 2.000 der inhaftierten Frauen und Mädchen Zwangsarbeit für die Mechanischen Werkstätten Neubrandenburg leisten. Die Leiterin des Projekts zeitlupe Dr. Constanze Jaiser führte durch das Gelände und erklärte anhand der Ausstellung historische Hintergründe. Frederike Altmann leitete die haptische Begegnung mit den natürlichen Materialien vor Ort an. Gemeinsam wurden nasse Blätter, der Boden, Buche, Birke, Stöcker und Moos befühlt. Ob diese sinnlichen Erfahrungen damals den Gefangenen auch möglich waren? Die Materialsammlung soll mit persönlichen Gefühlen, Verbindungen und Beobachtungen gefüllt werden, sodass aus einer abstrakten Sicht auf die Geschichte ein neues, „be-greifbares“ Bild davon entstehen kann, welchen Bedingungen die Frauen und Mädchen im KZ Waldbau ausgesetzt waren.
Nach einer Stärkung begaben sich alle in die praktische kreative Phase. Zurück in der Jugendkunstschule bekam jede Person einen eigenen Arbeitsplatz und das mitgebrachte Material wurde ausgepackt und sortiert. Das konnten Stoffe aus dem Wald, aber auch Fotos, Gedanken oder Skizzen sein. Friderike Altmann stellte anhand einer Powerpoint-Präsentation ihre eigenen Werke und Erkenntnisse vor. Auch analoge Kunstwerke waren im Raum ausgestellt. Die Materialmappe ihres Waldbau Besuchs konnte ebenfalls betrachtet werden. Aus diesen Eindrücken ergab sich eine anregende Diskussion über die künstlerische Darstellung von Erinnerung und Andenken zum Thema nationalsozialistischer Gewalt.
Nun entwickelten die Teilnehmenden mit Unterstützung der Künstlerin eigene Ideen und probierten unterschiedliche Materialien und Techniken aus. Der Künstlerin war es wichtig, dass die Workshop-Teilnehmenden ihre Komfortzone verlassen und so einen neuen Zugang zu ihrem Material finden. So wurde zu Draht und Faden gegriffen, Papier mit bunten Worten beschriftet, Skulpturen-Varianten aufgebaut und Farben und Abdrücke von Blättern festgehalten. Friederike Altmann motivierte die Gruppe: „Ihr macht das Beste.“ Als praktizierende Kunsttherapeutin ist sie sich sicher, dass Haptik der beste Zugang zur Erinnerung ist.
Dies sind einige der entstandenen Kunstwerke, an denen weitergearbeitet wird:
Gegen 18 Uhr endete der Workshop. Aber nicht ganz. Jede Person bekam den Kontakt der Künstlerin und noch einen letzten Hinweis zum eigenen Projekt mit nach Hause.
Am 09. und 10. April 2021 wird es einen zweiten Teil des Workshops geben. Bis dahin stehen die Teilnehmenden im Kontakt mit der Künstlerin. Die entstehenden Ideen und Werke könnten Teil der kommenden Gedenkveranstaltung Ende April nächsten Jahres werden. Sollten Sie, auch wenn Sie nicht beim ersten Teil des Workshops dabei waren, Interesse am zweiten Teil haben, nehmen Sie bitte rechtzeitig Kontakt zu zeitlupe auf. Nach einer Vorbereitungsphase kann ein Neueinstieg im Einzelfall möglich gemacht werden.
Kontakt:
Email an Dr. Constanze Jaiser: Constanze.Jaiser@raa-mv.de
Telefon: 0395 – 570 80 570